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Skizzen aus Bozen und Meran

mit Bemerkungen eines Europäers über die 20iger Jahre

(Aus den Tagebüchern von Pierre M. de Wessenberg)

   Meran Typen  

Von Peter H. Wessenberg

     Ein aus dem Vorderösterreich (dem alten Kulturraum Sundgau - heute Elsass und  Breisgau- auch Badisches genannt) stammender, 1858 in Paris geborener, in Gibraltar und in Südfrankreich aufgewachsener , sodann  in Fiume ( heute Rijeka in Kroatien) als K.u.K.-Marineur ausgebildeter Offizier, kannte lange Jahre von Österreich nur das alte Tirol, das heutige Südtirol. Während seines Aufenhaltes in Bozen und später in Meran, der auf Grund von den besonderen klimatischen Bedingungen erfolgte, wurde in Tagebüchern philosophiert und  Aktuelles dokumentiert, sowie mit Portraits, ja fast satirisch zu bezeichnenden Karikaturen von  Personen  ergänzt und in eindrücklicher Weise veranschaulicht.

BOZEN, November 1916

Wir leben heute in einer Zeit, in welcher man ohne "Karte" weder ein Stück Brot, noch ein Glas Milch, weder ein Stückchen Butter noch ein Stückchen Zucker bekommen kann; wo man keinen Brief unzensuriert fortschicken und keine 5 Kilometer weit ohne Erlaubnis reisen darf. Die Behörden haben das Recht in jede Privatküche nachzusehen, ob nicht etwa an einem "fleischlosen Tag" sich in irgend einem Topf doch ein Stückchen Fleisch findet und  man darf an einem solchen Tag, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen, das Stück Fleisch das man sich tags zuvor vom Munde abgespart hat, nicht verzehren. Persönliche Freiheit ist tot.

Gestern ging ich, trotz Fliegergefahr an die Etsch um womöglich eine Forelle für unseren Tisch zu holen und machte mir beim Fischen über Verschiedenes meine Gedanken.

Da stand ich in einer kleinen Station an der Vintschgau Bahn  und wartete auf einen Anschluss. Die Wände waren mit "Verordnungen" und Erlässen" bedeckt; da las ich zum Beispiel: Photographieren "Verboten", Rauchen "Verboten", Freies Ausspucken "Verboten", Betreten des Perrons "Verboten", Öffnen der Fenster "Verboten", Fortsetzen der Fahrt über das angegebene Fahrziel "Verboten", Mitnahme von Nahrungsmitteln aus einer anderen Bezirkshauptmannschaft "Verboten, Verweilen auf den Plattformen "Verboten", Benützung von Militärwagen "Verboten" u.s.w. eine endlose Reihe. Die Wände waren mit Verboten von oben bis unten bedeckt. Ein Wunder, dass man hier noch atmen darf! Nur das Hungerleiden ist erlaubt.

Ende November 1917

Seitdem meine Tochter verlobt ist, haben meine Frau und ich beschlossen, sobald wieder Friede in der Welt ist, Bozen zu verlassen und uns woanders niederzulassen. Diese Stadt hat zwar einen großen Vorzug - sein unglaubliches Klima - aber ansonsten so viele Nachteile, dass letztere im Ganzen doch überwiegen. Zu diesen zahlreichen Nachteilen gehört, in erster Linie, die tirolische Eigenart, wie der vielgepriesene "gerade Sinn" und die Biederkeit. Sie sind Dinge welche allenfalls einer längst vergangenen Zeit angehörten - heute aber  eher mit einer recht unverschämten Habgier und einer Grobheit Ähnlichkeit haben. Es ist doch recht eigentümlich, dass in Bozen, einer Stadt die vom Fremdenverkehr lebt und alles den Fremden verdankt, der Fremde von den Einheimischen allgemein mit dem verächtlichen Wort "die Her´glaufenen" bezeichnet werden. Man kann in Bozen 20 Jahr lang ansässig gewesen sein und noch so viel  Geld hier gelassen haben, aber für gleichberechtigt und gleichwertig wird man von dem einheimischen autochthonen "Patrizier" i.e. Geldprotzen dennoch nicht gehalten, man bleibt ein "Her´glaufener" mit welchem zu verkehren die "edlen" Eingeborenen es als ein Art Prostituierung ihres Tiroler Adels ansehen würden - trotzdem sich dieser "Adel" durch sonst nichts hervortut, als durch bauernhafte Sprache und ebensolche Manieren. "I bin a Bozner - stößt´s mi net" ist die Devise dieses liebenswürdigen Volkes, welches aus den Andreas-Hofer-Tagen so gut Kapital zu schlagen versteht und dessen Patriotismus ebenso tiefgewurzelt ist, als dessen tiefe Religiosität. Es ist schade, dass ungeachtet dieser Tugenden und schönen Eigenschaften, so mancher kleine moralische Defekt auch einher geht. So ist z.B. die Trunksucht im "heiligen" Lande allgemein verbreitet und es ist kaum übertrieben wenn von bösen Zungen behauptet wurde, dass in Tirol jeder und zu jederzeit besoffen ist. Dass es einem Nicht-Tiroler nicht immer behagen mag in einem solchen Milieu zu leben, braucht nicht erst betont zu werden. Die sehr oft an die Grenze des Strafgesetzes führende Art der hiesigen Biedermänner hat zur Entstehung des nur in Tirol verständlichen Begriffes des "Ruachn" geführt. Der "Ruach" findet sich hier auf Schritt und Tritt. Er gehört allen Gesellschaftsschichten an und mag ebensowohl ein Holzknecht als ein hochstehender Beamter sein. Sein Wesen besteht darin, dass er ein weites - mitunter sehr weites - Gewissen hat und er bei Verfolgung seiner Absichten und Wahrung seiner persönlichen Interessen - sich niemals durch kleinliche und engherzige Rücksichten gegen andere - seine eigenen Vorteil außer Acht zu lassen verleiten lässt. Dabei genießt der "Ruach" nicht nur ungeschmälert die Achtung seiner Landsleute - sondern er steht sogar bei denselben womöglich ob seiner besonderen Fähigkeiten in besonderem Ansehen. Wenigstens solange diese Fähigkeiten sich als erfolgreich erweisen.

Wahrscheinlich werden wir nach Meran ziehen, das klimatisch fast besser und in jeder anderen Beziehung Bozen vorzuziehen ist. Auch die Menschen sind dort - wohl infolge des Verkehrs mit einem zahlreichen internationalem Publikum­ - meist gebildeter, zuvorkommender Menschen mit kosmopolitischem Charakter.

27. Februar 1918

Kaum waren wir auf den Walther Platz  getreten, ertönte abermals die Sirene. Es war eine stille, wunderschöne Vollmondnacht. Der Platz war taghell beleuchtet. Wir liefen so schnell wir konnten auf die andere Seite desselben in das große Stadtkaffeehaus, das wir kaum erreicht hatten als eine Reihe heftiger Detonationen anzeigten, dass die zweite Angriffstaffel der italienischen Luftwaffen angekommen und ihr zerstörerisches Werk begann. Mittlerweile waren die Batterien auf dem Salten und die Talbatterie bei Leifers in Aktion getreten und sandten von Scheinwerfern auf dem Virgl geleitet ihre Schrapnells hintereinander den Flieger nach. Kugeln  und Sprengstücke prasselten um uns nieder, als wir unter die dem Kaffeehaus  vorgelagerten Arkaden Schutz nahmen. Ich führte meine Frau und meine Tochter in den großen - und wie ich damals annahm - sicheren Kellers des Hauses und der Hotelier Opitz, der als Feuerwerker beim Heeresgruppenkommando diente, war bemüht die Damen so gut es gehen wollte für die Nacht einzurichten. Im ganzen folgten während jener Nacht 8 Angriffe auf die Stadt und wir berechneten, dass mehr als hundert Bomben von den Italienern abgeworfen wurden

31. März 1918  Ostersonntag

Ein trüber regnerischer Morgen. Keine Osterglocken, denn diese sind in Munitionsfabriken und Arsenalen. Die Welt sieht düster und traurig aus. Sie hat wahrlich allen Grund dazu, trotz aller Siegesmeldungen aus Frankreich, mit denen man den Mut und die Geduld des verhungernden Volkes aufzurichten sich bemüht. So sieht das Osterfest eine christlichen Europas aus! Es klingt wie Hohn! Man drehe und wende es, wie man will, aber es lässt sich durchaus nur eines folgern: nämlich, dass unser ganzes Christentum eine große Lüge ist und sein muss. Solange Kriege bestehen und Massenmorde von der Kirche sanktioniert werden. Wir wohnten dem Gottesdienst in der Grieser evangelischen Kirche bei. Die Predigt stimmte mich traurig. Sie verquickte den österlichen Siegesgedanken mit den Siegen die Deutschland gegenwärtig in Waffen erringt und das kam mir vor wie Blasphemie. Wie kann ein wirklich christliches Gemüt Siegesfreude dieser Art empfinden?!

   Besonders hervorstechend sind die Figuren aus der großen Zeit des internationalen Kurbetriebes im Meran der 20iger Jahre. Gerade da war auch die schicksalsträchtige Periode des Zusammenbruchs der Monarchie noch sichtbar, der Wandel von Meran in "Merano" fühlbar und der Tagebuchschreiber  Pierre de V. hat sein Schicksal in besonderer Weise erfahren müssen, da er als ein sozusagen naturalisierter Österreicher mit französischer Kindheit, einer Erbschaft in Böhmen und Ungarn und dann noch dazu  mit einer Engländerin verheiratet war, wobei dem Ehepaar bei Verbleib in Meran nur die Option der italienischen Staatsbürgerschaft offen stand, um das persönliche Hab und Gut zu sichern. Seine Worten gehen daher über die damals übliche Sichtweise hinaus und drücken wahrhaft ein europäische Dimension des Denkens aus.

MERAN, 17. Jänner 1920

 

"In unserem Hause wohnt auch ein italienischer Major, mit welchem ich ab und zu ein  Plauderstündchen habe. Sicherlich ist er müde vom Dienen in dieser Zeit, so meinte er, aber er verstünde die  verheerenden Verhältnisse, das unseriöse Getriebe in der Armee noch besser als die Art der Tiroler Bauern. Ich ließ mich darauf nicht ein, wusste ich doch, er versucht mich auf dem Gebiete eines Patriotismus festzunageln. Allerdings musste ich ihm schon recht geben, auch mir waren  diverse Eigenheiten  der Bevölkerung unklar. So sagen die Einheimischen 'Gott hat uns heuer gesegnet', wenn ihnen ein Kind verstorben ist. Diese sonderbare Auffassung von 'Segen' rührt daher, dass sie nunmehr einen 'Fürsprecher bei Gott' im Himmel zu haben wähnen.

 

 8. Februar 1920

"Wieder ein Gespräch mit meinem  "Politicus". Ich erzähle ihm von dem Buch General von Ludendorffs, welches ich gerade lese und wir sind uns darüber einig, dass es in diesem Deutschen nur das Schwert als Mittel zur Macht gegeben hat und also seine Macht auf jeden Fall die Gewalt ist. Mein Italiener wandte hier ein, dass Deutschland beim Überfall auf Belgien sein Schicksal besiegelte, da die ganze übrige Welt dagegen Stellung zu nehmen entschlossen war. Darauf konnte ich nur beistimmend erwidern, dass es eben eine Errungenschaft unserer Zivilisation ist, wenn die Parteien im Inneren der Staaten um die Macht ringen und dies auch ohne Gewalt möglich sein kann. Doch leider haben Aufklärung und höhere Gesittung die Gewaltmittel bisher noch nicht abzuschaffen vermocht. Aus der Psyche, die Stärke und Edles zugleich sieht, erwächst die grenzenlose Selbstsucht, welche Deutschland dazu trieb, das mehr als riskante Abenteuer des Weltkrieges zu wagen. Doch wer sind wir, zwei feindliche Offiziere und was ist bei mir und bei Ihnen das Edle und Unedle, so fragte der Italiener. Ich sagte, es sei nur der Einzelne, der sich zuweilen über das sehr niedrige moralische Niveau der großen Herde mehr oder weniger zu erheben vermag und selten gelingt es einem solchen, mit seinen besseren Ansichten durchzudringen. Im Allgemeinen bleibt "homo homini lupus" ein wahrer Satz. Die durch Sitte und Sprache bedingten Unterschiede liegen meistens in der Form, nicht im Wesen. "Grattez le Russe, vous trouverez le Tartare" und dieser "Tartare" ist im Grunde unter der obersten Politur einer jeden Nation zu finden. Gemeinheit und Niederträchtigkeit sind allen gemeinsam. "It´s in the nature of the beast" und der Durchschnittsmensch ist bei allen Nationen im Grunde derselbe und nicht viel besser als ein russischer "Yahoo"! Und so bogen wir beim Tappeinerweg um die Ecke und sahen stumm auf Meran herab.