Wessenbergische Familienkorrespondenz im Konstanzer Stadtarchiv

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Priv. Doz. Dr. Christine Roll, Konstanz

Zu den Schätzen, die das Stadtarchiv Konstanz verwahrt, gehört - das ist lange bekannt - der umfangreiche, weit über 15 000 Stücke umfassende Briefnachlass des letzten Konstanzer Generalvikars und Bistumsverwesers Ignaz Heinrich von Wessenberg, (1774-1860). Wie sich jetzt bei der systematischen Erschließung dieses Nachlasses ergibt, lässt sich daraus auch manche Einsicht in die Familiengeschichte der Wessenbergs gewinnen: Insgesamt ca. 300 Stücke Familienkorrespondenz enthält der Nachlass. Ganz überwiegend handelt es sich dabei natürlich um Briefe an Ignaz Heinrich – denn es ist ja sein Nachlass –, und zwar um Briefe von Verwandten seitens des Vaters wie der Mutter, einer geborenen Gräfin von Thurn-Valsassina.

Von besonderem Interesse sind die insgesamt ca. 200 Briefe der beiden Onkel, väterlicher- wie mütterlicherseits, Alexander Franz von Wessenberg (1734-1805) und Benedikt Joseph von Thurn-Valsassina (1744-1825), denn beide waren nicht nur sehr gebildet, sondern auch wichtige Leute ihrer Zeit: Alexander Franz war Dompropst in Speyer und Domkustos in Worms, Benedikt Joseph Dompropst in Regensburg und zudem noch Gesandter seines Bischofs auf dem Immerwährenden Reichstag daselbst. Ihre Briefe an den jungen Ignaz Heinrich – übrigens zumeist französisch geschrieben – zeigen eine rege Anteilnahme an Studium und persönlicher Entwicklung der drei Wessenberg-Brüder; sie zeigen ferner jene für die Zeit so typische Verbindung von Privatem und Politischen, und sie zeigen nicht zuletzt, welch wichtige Rolle die Kontakte von Verwandten für die Karriere des jungen Domherrn Ignaz Heinrich spielte, gerade auch für seinen Aufstieg zum Konstanzer Generalvikar.

Von ganz anderer Art sind die Briefe der Schwestern an Ignaz Heinrich, vor allem die knapp 40 Briefe der jüngeren Schwester Josephine (1779-1848). Auch sie sind durchgängig französisch geschrieben, beleuchten die Krise reichsadliger Lebensformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber konsequent aus der innerfamiliären Perspektive. Letzteres gilt auch für die Briefe der Schwägerin Getrude, geb. Mülhens, der Gattin Johann Philipps, einer Frankfurter Bankierstochter. Bemerkenswert erscheint, dass sich in der Wessenberg-Korrespondenz so viele Briefe von Angehörigen der nächsten und übernächsten Generation finden. Ignaz Heinrich von Wessenberg hat, so ergibt sich deutlich, eine zentrale Rolle für die Familie gespielt: Z.B. bemühte er sich, in dem Konflikt seines Bruders Johann Philipp mit dessen Sohn Heinrich ausgleichend zu wirken, und immer wieder wandte sich dessen Gattin Ludovina mit der Bitte um Rat an ihn oder rechtfertigte ihr Verhalten; zwei Briefe aus der Feder ihrer Kinder Olga und Philipp Heinrich sind ebenfalls erhalten. Alle Familienangehörigen, ob nun verheiratete  Boos-Waldeck wie Henriette, die Tochter Johann Philipps, oder verheiratete  Mickwitz wie Adolphine oder verheiratete  Minutoli wie Wolfhardine, einigte der Wunsch, Ignaz Heinrich zu treffen oder wenigstens brieflich von seinem Intellekt und seinem Wissen zu profitieren und seinen Rat einzuholen. Man wollte ihm aber auch stets von sich selbst das Neueste mitteilen, sei es von der Familie, sei es über Kunstausstellungen, sei es über neue Bücher oder geplante Reisen.

So wird man zusammenfassend sagen können:

Die Briefe der älteren Verwandten vermitteln weitere Aufschlüsse über die Wege von Protektion und Klientel im Alten Reich,
die Briefe der Schwestern
beleuchten die wichtige Rolle Ignaz Heinrichs für die Familie in der Umbruchzeit der Säkularisation und
die Briefe der jüngeren Verwandten, vor allem der Nichten, auch der angeheirateten, spiegeln seine Stellung als moralische Instanz in der Fami­lie: Auf sein Urteil wurde Wert gelegt. Die in jeder Hinsicht ergiebigen Briefe der Nichten, von denen eine in Berlin lebte, bringen zudem einen Hauch von gelebter Moderne in die Korrespondenz. Insgesamt lässt sich der Wandel von der Korrespondenz zwischen Angehörigen einer Reichsadelsfamilie in einer Krisen- und Umbruchszeit hin zu einer im Staatsdienst weitgehend funktionslos gewordenen, aus ökonomischen Zwängen arbeitenden und sich auch sonst verbürgerlichenden Landadelsfamilie an der Familienkorrespondenz gut nachvollziehen. Sie harrt nun der wissenschaftlichen Bearbeitung.