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KUNST ÖFFNET GRENZEN
 

Skulpturen markieren die Staatsgrenze zwischen der Schweiz und Deutschland. Die Grenzstädte Konstanz und Kreuzlingen sind um eine Attraktion reicher: Statt durch einen Zaun getrennt, sind die beiden Bodensee-Städte mit 22 Skulpturen des Künstlers Johannes Dörflinger verbunden

Weltweit erste Kunstgrenze
Der 16. August 2006 stellte für die beiden Grenzstädte ein historisches Datum dar. An diesem Tag schnitten der Kreuzlinger Stadtammann Josef Bieri und der Konstanzer Oberbürgermeister Horst Frank den Grenzzaun entzwei und gaben damit 300 Meter Maschendraht am See zum Abriss frei. Anstelle des Zauns markiert jetzt, ein halbes Jahr später, die weltweit erste Kunstgrenze den Verlauf der Landesgrenze zwischen Deutschland und der Schweiz. Acht Meter hohe Skulpturen aus kolibrirot lackiertem Edelstahl verbinden sich mit dem Blau von Himmel und Wasser und dem Grün von Wiesen und Bäumen.
Der Konstanzer Künstler Johannes Dörflinger hat für die Kunstgrenze ein Gesamtwerk mit 22 Einzelskulpturen entworfen. Die Objekte stellen die Trümpfe des Tarot dar, die „Grossen Arkana“. Die Motive der Karten stehen für grundlegende Eigenschaften und Erfahrungswege der menschlichen Existenz. Heute wird Tarot meist mit Kartenlegen und Wahrsagerei in Verbindung gebracht. Diese Bedeutung überlagert jedoch die eigentlichen Ursprünge. Dörflinger folgt mit seinen Skulpturen der Grundidee des Tarot, dem Zug von Figuren im Rahmen einer Prozession.

Es handelt sich dabei historisch um Triumphzüge in den mittelalterlichen Städten Italiens – eine Mischung aus Festveranstaltungen, kirchlichen Prozessionen, Theater, Karneval, ausgerichtet von Patriziern, Fürsten, Bischöfen und reichen Handelsleuten. Überliefert sind die Figuren in den Tarotkarten, die zuerst der Herzog Visconti zwischen 1420 und 1450 malen ließ. Johannes Dörflinger interpretiert die Tarot-Trümpfe in abstrahierter Form. Seine Skulpturen öffnen als Kunstgrenze nicht nur ganz real die Grenze, sondern auch symbolisch und abstrakt.

Die richtige Idee zur richtigen Zeit
Von der Idee zur Realisierung war es ein weiter Weg: Schon lange war Josef Bieri und Horst Frank, den Repräsentanten der beiden Städte, der unansehnliche Grenzzaun ein Dorn im Auge. So entstand der Wunsch, den Zaun zu entfernen. Die Grenzbehörden beider Länder waren einverstanden, unter der Bedingung, dass die Grenze auf andere Art und Weise markiert würde. Von da war es nicht mehr weit zur Idee, den Grenzverlauf durch Kunstwerke sichtbar zu machen. Als Johannes Dörflinger davon hörte, entwickelte er die Idee weiter zum Projekt Kunstgrenze mit Tarot-Skulpturen. Die von Bettina Rosenburg präsidierte Dörflinger-Stiftung erklärte sich bereit, die Kosten für die Herstellung der Skulpturen und weiterer Leistungen in Höhe von insgesamt rund 633.000 Euro zu übernehmen. Rund zwei Jahre vergingen, bis die Zustimmung von insgesamt sechzehn Gremien dies- und jenseits der Grenze eingeholt war, der Zaun endlich fallen und der Kunstgrenze Platz machen konnte. „Die Kunstgrenze war nur zum jetzigen Zeitpunkt möglich“, meint Dörflinger. Alles hat gepasst: Der besonders gute „Draht“ der Bürgermeister zueinander, die Annäherung der Schweiz an die EU, Idealismus und die Grosszügigkeit der Dörflinger-Stiftung, das Denken in Symbolen, das heute viel ausgeprägter ist ... und natürlich: Johannes Dörflinger und das Thema Tarot, das ihn seit über 30 Jahren beschäftigt.

Der Künstler Johannes Dörflinger
Johannes Dörflinger ist 1941 in Konstanz geboren und dort in der Altstadt aufgewachsen, unweit des Grenzzaunes zwischen Deutschland und der Schweiz. Er studierte an der Kunst-Akademie in Karlsruhe und an der Hochschule der Künste in Berlin. Es folgten Aufenthalte in London und New York, wo er 1969 Dozent für Malerei an der New York University wurde. Dörflinger lebt und arbeitet in Konstanz, London, auf der Mittelmeerinsel Gozo und im Schwarzwald. Auf Gozo, wo er das spezielle Licht schätzt, arbeitet Dörflinger in Pastell und skulptural, im Schwarzwald beschäftigt er sich vornehmlich mit Öl und Zeichnung, und in London arbeitet er ebenfalls in Öl. In Konstanz stehen hauptsächlich Polaroids und Kleinskulpturen im Zentrum seines Schaffens. Johannes Dörflinger hat zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien erhalten, seine Werke finden sich in renommierten Museen der Welt ausgestellt, so im Guggenheim Museum und im Metropolitan Museum of Art in New York, in der Albertina in Wien und in der Tate Gallery in London.
„Johannes Dörflinger widmet sich elementaren Themen menschlichen Daseins und existenziellen Formen, eingebettet in kosmische Dimensionen“, erklärt der Kunsthistoriker Siegfried Gohr. Baum, Vogel, Berg und Tarot sind wiederkehrende Themen seines künstlerischen Schaffens. Mit Tarot beschäftigt er sich seit 40 Jahren. „Meine Auseinandersetzung mit Tarot hat mit Esoterik und Wahrsagerei überhaupt nichts zu tun“, betont Dörflinger. An diesem Thema habe ihn immer die Verdichtung allgemeinmenschlicher Erfahrungen im Symbol gereizt. Mit der Kunstgrenze hat er ein Landschaftskunstwerk geschaffen, das dem Betrachter Anstöße geben, zum Assoziieren einladen, jedoch nichts festlegen möchte. Allgemeingültige Interpretationen der Kunstgrenze durch den Künstler wird es nicht geben. Das Werk lebt im Auge jedes Einzelnen - anders.

Die Johannes-Dörflinger Stiftung
Die Johannes-Dörflinger Stiftung wurde im April 2004 mit dem Ziel gegründet, das umfangreiche Werk von Johannes Dörflinger zu pflegen und zu erforschen. Stiftungspräsidentin ist die Juristin Bettina Rosenburg. Dem Stiftungsrat gehören unter anderem der Düsseldorfer Kunstwissenschaftler Siegfried Gohr und der Leiter des Kunstmuseums Singen, Christoph Bauer, an. Am Sitz der Stiftung in Kreuzlingen werden dauerhaft Arbeiten von Johannes Dörflinger gezeigt und in wechselnden Ausstellungen wichtige Themen und Entwicklungslinien seines Werkes präsentiert. 2006 hat die Dörflinger-Stiftung mit „Baumidee“ die erste Publikation ihrer Stiftungsreihe vorgelegt, welche die gleichnamige Ausstellung dokumentiert und aus kunstwissenschaftlicher Sicht beleuchtet. „Als wir die Stiftung im April 2004 gegründet haben, ahnten wir noch nichts von der Kunstgrenze“, erklärt Bettina Rosenburg. Erst im Juli desselben Jahres traten die Stadtoberhäupter Horst Frank (Konstanz) und Josef Bieri (Kreuzlingen) mit der Idee an die Öffentlichkeit, 300 Meter Grenzzaun auf Klein-Venedig abzureißen und den Verlauf der Grenze durch Kunstwerke zu markieren. Dieses Vorhaben inspirierte Johannes Dörflinger, seine Tarot-Modelle für Großskulpturen (2002) zur Kunstgrenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen umzuarbeiten. Die Dörflinger-Stiftung trägt die Kosten von insgesamt einer Million Franken für die Herstellung und Installation der Skulpturen.
Damit rückte die Kunstgrenze rasch in den Mittelpunkt des Wirkens der Stiftung, und auch das Jahr 2007 steht ganz im Zeichen der Kunstgrenze. Inwieweit die Kunstgrenze die Stiftungsarbeit in Zukunft prägen wird, hängt auch von der Resonanz dieses einzigartigen Werkes ab. Geplant sind in jedem Fall weitere in Kreuzlingen, welche - vom Künstler entscheidend geprägt - Modellcharakter haben für weitere grössere Ausstellungen.

Die Stiftung übernimmt folgende Kosten des Projekts Kunstgrenze:
- die Kosten der Skulpturen - die Kosten der Fundamente - die Kosten der Beleuchtung. Der Gesamtwert der Investitionen, die die Stiftung finanziert, beläuft sich auf rund 633.000 (ca. 1.000.000 SFR).

Die Tarot-Prozession (von Rolf Eichler)
Mit der Anordnung seiner Skulpturen auf der nun imaginären (Landes-)Grenze folgt Johannes Dörflinger der Grundidee des Tarot, dem Zug von Figuren im Rahmen einer Prozession. Historisch handelte es sich um Triumphzüge in den mittelalterlichen Städten Italiens - eine Mischung aus Festveranstaltungen, kirchlichen Prozessionen, Theater, Karneval, ausgerichtet von Patriziern, Fürsten, Bischöfen, und reichen Handelsleuten. Diese Festzüge erinnern stark an den Karneval der Kulturen: Wagen wurden allegorisch zu Szenerien gestaltet, großzügig mit Bildern, Symbolen und Blumen geschmückt. In mehreren Folgen wurden die Vorstellungen der mittelalterlichen Welt oder Szenen aus Antike und Mythologie dargestellt. Der König der Narren aus der antiken römischen Saturnalia führte den gesamten Zug an. Überliefert sind uns diese Figuren, Geschehnisse oder Gegenstände in Form der Tarotkarten, wie sie vermutlich erstmals der Herzog Visconti zwischen 1420 und 1450 malen ließ. Entgegen Legendenbildungen über die Entstehung des Tarot sei hier festgehalten, dass das Tarot eine Schöpfung auf der Schwelle zur Neuzeit ist und keine Erfindung der Antike. Wenn das Tarot Elemente alter Mythen enthält, dann deshalb, weil die mittelalterlichen Festzüge ihren Ursprung im antiken Rom haben. Die Tradition der Triumphzüge stammt noch aus dem alten Griechenland und wurde von den Etruskern übernommen. Als die Römer die Herrschaft über Italien antraten, übernahmen sie neben dem Götterpantheon der Etrusker auch diese Tradition. Sie hielten Triumphzüge nach erfolgreichen Kriegszügen ab, auf denen sie neben hochgestellten Gefangenen Kultobjekte präsentierten, um zu verdeutlichen, dass sie dem eroberten Volk auch den religiösen Mittelpunkt geraubt hatten. Die antiken Elemente der Tarotabbildungen sind also vornehmlich in Griechenland, in Etrurien und Rom zu suchen.
Dörflinger wählt für seine Arbeit die 22 großen Trümpfe des Tarots aus, die so genannten Großen Arkana. In den italienischen Festzügen wurden sie in drei Gruppen aufgeteilt. Zum „Triumph der Liebe“ gehören die Abbildungen Herrscherin, Herrscher, Päpstin, Papst, Mäßigkeit, Liebe, Triumphwagen, Kraft; zum „Triumph des Todes“ Rad des Schicksals, Gehängter, Tod, Teufel, Blitz oder Haus Gottes; zum „Triumph der Ewigkeit“ Stern, Mond, Sonne, Engel, Gerechtigkeit, und Welt. Narr und Magier stehen außerhalb der drei Gruppen.

Dörflinger und das Tarot
Das Tarot in seiner ursprünglichen Form als einem Träger alter Weisheiten und menschlicher Sehnsüchte hat Johannes Dörflinger seit langem beschäftigt. (Dieser Tarot-Begriff muss entschieden abgegrenzt werden gegenüber einem Tarot- Verständnis, das in diesem Kartenspiel ein Medium der Wahrsage sieht. Diese Funktion wurde den Karten erst Ende des 18. Jahrhunderts angedichtet.)
Zunächst setzte Dörflinger das Thema in einem Bilderzyklus um („Tarot 1975“,
Granolithographien), der die Figuren/Trümpfe in einer gepünkelten Maltechnik nahezu auflöst und ihnen einen traumhaften, fast translunaren Status verleiht. Jedes dieser Bilder ist eine Entdeckungsreise, sind doch die Figuren und Figurenpaare in einen Farbenkontext gestellt, der sie nur zögernd freigibt. Streng hingegen sind die Felderrahmen wie Dreieck, Stern, Quadrat und Kreis, in die die einzelnen Bilder jeweils gestellt sind.
In dem Tarot von 1988, das Dörflinger Oscar Schlemmer widmet, geben die Bilder (Handsiebdrucke) den Gesten von Schlemmers „Triadischem Ballett“ verpflichtet - deutlicher den menschlichen Umriss wieder. Der Verweis auf die Trümpfe liegt jetzt weitgehend abstrakt wesentlich bei Dreieck, Stern, Kreis und Quadrat, die nun nicht mehr wie bei den Bildern von 1975 den Feldrahmen abgeben, sondern als farbige Symbole in den ansonsten weiß und grau gehaltenen Bildern fruchtbar gemacht werden: Der rote Kreis steht für die Liebe, das blaue Quadrat für den Intellekt, der schwarze Stern für das Schicksal und die gelbe Pyramide für Seele und Geist. Alle vier sind in jedem Bild in jeweils unterschiedlicher Größe vorhanden wobei ihre ebenfalls unterschiedliche Positionierung im Bildfeld die für den einzelnen Trumpf spezifische Aussage macht. Die Figuren sind diesen Mächten einerseits unterworfen, gehen andererseits handelnd damit um. 2002 wird dann mit „Tarot-Modelle für Großskulpturen“ der Grund gelegt für die Skulpturen, wie sie nun auf der Kunstgrenze stehen. Für den Künstler beginnt das Wagnis, mit seinem Werk aus der Fläche der Malerei in den dreidimensionalen Realraum fort zu schreiten.

Sehr abstrakt - und sehr schön
Der Grad an Abstraktion, den diese, weniger Figuren denn Figurationen zu nennenden Gebilde (weil mehr der Idee als der Repräsentation verpflichtet) im Verhältnis zu ihrem Anfangsstadium als Trümpfe aufweisen, ist groß, und es bedarf der Anstrengung, den Reduktionsprozess auf das eigentliche Wesen der Triumphzüge nachzuvollziehen. Wenn es stimmt, dass die Welt ein Text ist, dann sind Dörflingers Figurationen - den Buchstaben, Runen und Keilzeichen nahe stehend - eine Aufforderung zur Dechiffrierung. Und ganz so will der Künstler sein Werk auch verstanden wissen, als Zeichen nämlich, welche die Bedingungen menschlicher Existenz symbolisieren. Sie können im Betrachter Assoziationen freisetzen, ein Sinngebungsspiel im Hier und Jetzt ermöglichen, über das er als Individuum die Autorität behält. Beobachtungsgabe und Fantasie ergänzen sich zum staunenden Genießen. Dass Kunst den Betrachter nicht einfach „mitnimmt“, betont nachdrücklich der Kritiker Joachim Kaiser, wenn er sagt „der Rezipient muss ganz im Gegenteil Arbeit investieren - ich wüsste aber nicht, was sich in unserem Leben mehr lohnt als diese Investition. Kunst hat oft zu tun mit einem enormen Anspruch...man muss sich mit Dingen einlassen, die manchmal sehr abstrakt und manchmal sehr schön sind“. - Auf Dörflingers Tarot Prozession trifft beides zu.

Infos unter:
www.konstanz.de, www.kreuzlingen.ch,
www.kunstgrenze.de, www.kunstgrenze.ch