Der Wurm im Heldentum

 

Im Jahr 1324 heiratet Johanna von Pfirt Albert II von Habsburg, um auf diese Weise den Erhalt der Grafschaft Pfirt zu sichern. Die Grafschaft Pfirt liegt zwischen den Wessenbergdomänen im Tal der Rosemontaise –nahe bei Belfort und der Burg Biederthan am Rämel, einem Ausläufer des Juras südlich von Basel.

 

Am 26. Mai 1328 verlässt ein Häuflein von Franziskanermönchen Hals über Kopf das Franziskanerkloster an der päpstlichen Residenz in Avignon. Der Papst bekommt rechtzeitig Wind davon und lässt sie verfolgen. Aber sie kommen mit knapper Not noch auf ein Schiff, das sie nach Pisa bringt. Dort erwarten die Mönche den designierten Deutschen Kaiser Ludwig den Bayern und begeben sich unter seinen Schutz. Ludwig von Bayern liegt selbst mit dem Papst im Clinch. Die mittlerweile exkommunizierten Mönche gehen mit dem ebenfalls exkommunizierten Kaiser nach München.

 

Am 10. Februar 1342 heiratet Ludwig, der Sohn Kaiser Ludwigs des Bayern, Margarete Maultasch. Ihre bestehende Ehe mit Johann Heinrich von Lothringen wird vom Kaiser als ungültig betrachtet. Zwei der Franziskanermönche, die seinerzeit aus Avignon geflohen waren, erklären in verschiedenen Consultationes de causa matrimoniali die Berechtigung des Kaisers zu solchen Akten, soweit die zivilen Belange einer Ehe betroffen sind. Die Ehe wird später tatsächlich für nichtig erklärt.

 

1363 setzt Margarete Maultasch nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes Meinrads III. Karl IV von Habsburg, den ältesten Sohn von Albert II und Johanna von Pfirt, als Erben von Tirol ein.

Dadurch entsteht ein Ländergebilde, das auch heute noch Österreich darstellt.

Damit beginnt die Geschichte Österreichs in ihrer charakteristischen Form.

 

In Österreich, im Einzugsbereich von Passau, war um 1200 ein Epos entstanden, das den Geist und die Tragik des Rittertums mitbestimmte - das Nibelungenlied. - Es ist Heldenzeit.

 

Jetzt muss man, um mit Snoopy von den Peanuts zu sprechen, das Ganze noch so richtig verknubbeln.

 

Was haben die Dinge miteinander zu tun?

Nun, der aus Avignon vor dem Papst geflohene Franziskanermönch, der mit seinem Gutachten zur Eheannullierung von Margarete Maultasch in gewisser Weise an der Begründung Österreichs beteiligt war, war ein Engländer, geboren um 1280 in dem Dorf Ockham in der englischen Grafschaft Surrey. Wilhelm von Ockham gehört, auch wenn viele Menschen, die mit anderen Dingen beschäftigt sind, seinen Namen möglicherweise nie gehört haben, zu den größten Gestalten der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte. Er war ein glänzender Theologe, der mit seinen Gedanken die Folgezeit bis in unsere Tage beeinflusst hat und immer noch fasziniert. Er war ein so guter Theologe, weil er vor allem ein ganz ausgezeichneter Logiker war. Als solcher ist er bis auf den heutigen Tag unter Philosophen wohlbekannt und hoch geachtet.

Notgedrungen, nicht von der Ausbildung her und wohl auch nicht aus Neigung wurde er zu einem der wichtigsten Impulsgeber für die Staatstheorie des Abendlandes. Er hat einige Überlegungen entwickelt, die andere Denker nicht mehr losgelassen haben und die schließlich nach vielfältigem Weiterdenken zu den Vorstellungen der modernen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führten. Dass er Staatstheoretiker wurde, hängt mit seiner Flucht aus Avignon zusammen und mit der Tatsache, dass er dadurch in den Konflikt zwischen Kaiser und Papst hineingezogen wurde. Aus Avignon war er aber geflohen, weil er seinerseits in einen Konflikt mit dem Papst geraten war, so wie auf ganz anderem Gebiet eben auch Ludwig der Bayer, der von Johannes XXII. nicht als Kaiser anerkannt wurde.

Ockham war auf eine typisch theologische Weise mit dem Papst in Konflikt geraten, oder, um es anders auszudrücken, vor den Papst zitiert worden. Er hatte in den Jahren 1317 bis 1319 seine Lehrverpflichtung für die Erlangung des Magistergrades der Theologie in Oxford, die Kommentierung des Liber Sententiarum des Petrus Lombardus, geleistet und war darauf wohl in einem Ordensstudium oder sonst wie mit der Ausarbeitung von Kommentaren zu Schriften des Aristoteles, unter anderem eben zur Logik und zur Physik, beschäftigt. In den frühen 20er-Jahren gab es Kontroversen mit anderen angehenden Magistri, unter anderem z.B. mit einem gewissen Walter Chatton, der ebenfalls Franziskaner war. Der Kanzler der Universität Oxford, John Lutterall, wurde in diesem Zusammenhang entweder aus eigenem oder durch Auftrag aktiv und veranlasste eine Untersuchung der Lehren Ockhams vor der päpstlichen Kurie in Avignon. 1324 wurde Ockham nach Avignon zitiert, um sich zu verantworten. Ockham arbeitete dort an seinem Sentenzenkommentar, Lutterall hatte einen "Libellus" mit den beanstandeten Thesen verfasst, es kam aber offenbar nicht zu irgendwelchen Entscheidungen, jedenfalls wurde Ockham nie wegen irgendeiner These verurteilt. Immerhin saß er aber jahrelang in Avignon, wobei ich nicht sagen kann, ob es ihm dort so gut gefallen hat wie mir bei meinen Besuchen. 1327 kamen einige Ordensmitbrüder Ockhams wegen der Auseinandersetzung des Franziskanerordens mit dem Papst über die Frage der Armut nach Avignon, unter ihnen der Ordensgeneral Michael von Cesena, Bonagratia von Bergamo, Franciscus de Marchia, Franciscus de Mayronis. Wie es scheint erst dadurch, vor allem durch Michael von Cesena, kam Ockham mit dem Armutsstreit direkt in Berührung. Er hatte nicht zu den besonders radikalen Franziskanern gehört und gehörte auch nie zu dieser so genannten Spiritualenbewegung. Aber aufgrund der Entwicklungen und der Problemstellung in der Kontroverse mit dem Papst kam Ockham zu einer Überzeugung, die für einen mittelalterlichen Menschen ein existentielles Problem darstellen musste: der Papst selbst war ein Häretiker.

Diese Vorstellung muss man auf dem Hintergrund mittelalterlichen Denkens näher betrachten, um die Tragweite und die Folgen einer solchen Feststellung oder auch nur ihrer Erwägung zu erfassen. Es ist ein selbstverständlicher Kalauer, dass die mittelalterliche Welt bestimmt war von der Idee einer hierarchischen Ordnung. Der Konflikt zwischen Johannes XXII. und Ludwig von Bayern ist Ausdruck davon, wie es 250 Jahre vorher der Konflikt zwischen Heinrich dem IV. und Gregor VII. war. In einer hierarchischen Konzeption sind zwei oberste Spitzen der Ordnung nicht erträglich, eine Nebenstellung zwischen geistlicher und weltlicher Spitze ist instabil. So hat im byzantinischen Bereich der Kaiser immer dafür gesorgt, keine kirchliche Spitze gleichen Ranges aufkommen zu lassen. Umgekehrt ist in der westlichen, lateinisch-römischen Welt von vornherein der Bischof von Rom so etwas wie der Vertreter der höchsten Spitze irdischer Ordnung. Der Kaiser wird vom Papst gekrönt.

Das Problem tritt hauptsächlich dadurch auf, dass der Papst eben nicht nur geistliche Macht beansprucht, sondern auch Einfluss auf die weltliche Machtausübung des Kaisers nehmen will und andererseits selbst weltliche Macht ausüben will. Das ist nicht immer deutlich, es tritt aber vor allem nach der Rückkehr der Päpste aus Avignon nach Rom durch den Kirchenstaat in Mittelitalien ganz offen zu Tage.

Das Besondere an der ganzen Angelegenheit liegt darin, dass nach mittelalterlicher Vorstellung die sittliche Ordnung durch die Gefolgschaftstreue der Menschen, vor allem aber durch die Treue zum jeweiligen Vorgesetzten einerseits, durch die Verlässlichkeit des Vorgesetzten andererseits gebildet wird. Das Heil des Menschen, das durchaus auch damals in der Folge augustinischer Gedanken in der Entfaltung seiner Persönlichkeit bestand, hing ab von der rechten Beziehung zu Gott als einem persönlichen Gegenüber, durch das die eigene Weise des Personseins die wahre Erfüllung finden sollte. Diese Beziehung war aber nach der Ordnungsvorstellung des Mittelalters als eine Beziehung über die vermittelnden Instanzen der Vorgesetzten zu verstehen. Der jeweilige Vorgesetzte verhalf seinem Untergebenen durch rechte Leitung zu seiner Entfaltung, wobei die rechte Leitung des Vorgesetzten wieder darauf beruhte, dass sein Vorgesetzter ihn in der rechten Weise führte, bis schließlich die höchsten Vorgesetzten durch ihre Statthalterschaft für Gott die rechte Leitung der ganzen Menschheit verbürgten. Da es sich hier um das Gebiet des geistlichen Lebens überhaupt handelt, war es selbstverständlich der Papst, der für das Heil der Menschen zu sorgen hatte, wobei der Kaiser oder die Fürsten für die Erhaltung des äußeren Rahmens, in dem die Entfaltung des je einzelnen möglich ist, zu sorgen hatte. Das Verhältnis zwischen Untergebenen und Vorgesetzten ist dabei, wie Benjamin Nelson das geschildert hat, idealerweise als ein freundschaftliches gedacht.

Nun trafen im Fall Ockhams zwei Dinge aufeinander.

Zum einen war Ockham Franziskaner, und als solcher war seine Orientierung stärker auf die affektive Bindung an Gott als auf die Erfüllung einer vorgegebenen, universalen Ordnung gerichtet. Ordnung ist nach Ockham nicht etwas Vorgegebenes, das durch Gott lediglich erhalten wird, sondern Sache eines ordnenden Willens. Gott schafft nicht nach einer allgemeinen Vernunftordnung, sondern schafft eine Ordnung, die eben dadurch für den Menschen auch vernünftig ist. Daher ist es nicht primär Aufgabe des Menschen, Einsicht in die Vernunftordnung zu erlangen und sein Handeln nach dieser Einsicht auszurichten, sondern sein Wollen auf die Liebe zu Gott auszurichten und so zu handeln, wie Gott es vom Menschen will.

Trotzdem ist auch für Ockham der Wille Gottes vermittelt durch die natürlichen Gegebenheiten und die sinnvoll gestalteten menschlichen Einrichtungen. Gottes Wille lässt sich erkennen im Blick auf das rechte Verhältnis, die recta ratio im Handeln der Menschen untereinander. Dazu war es erforderlich, dass die Einrichtungen der Kirche und der staatlichen Stellen ihre Aufgabe im Blick auf den Willen Gottes und in der Einsicht in das, was von Gott gewollt sein kann, erfüllen. Nun musste Ockham aber in Avignon erkennen, dass man sich auf den Papst selbst nicht mehr verlassen konnte. Wenn der Papst als häretisch gelten musste, dann war die Ordnung des Lebens grundlegend gestört. Dann musste als Folge der einzelne sich um seine eigene Orientierung an Gott kümmern. Das ist ein Punkt, der in der beginnenden Frömmigkeit der so genannten "devotio moderna" ihren Ausdruck fand, weil natürlich auch andere als Ockham von ähnlichen Problemen betroffen waren. Zum anderen aber war es damit Aufgabe des Staates, selbständig, ohne die Anleitung des Papstes als ersten Stellvertreters Gottes auf Erden, für geordnete Verhältnisse zu sorgen, in denen der einzelne Mensch sich um seine rechte Ausrichtung auf Gott und damit um sein Heil kümmern konnte.

Das Zusammentreffen von Ockhams grundlegender, durchaus augustinischer Orientierung am Wollen des Guten zur Entfaltung des wahren Menschseins mit dem Verdacht der Zerstörung des äußeren Ordnungsgefüges, das diese Entfaltung garantieren konnte, brachte in Ockhams Denken einen Säkularisierungsschub, durch den die weltliche Ordnung aus dem sakralen Band der kirchlichen Bestimmung herausgelöst wurde. Der Mensch hat, so weit es um die Belange der Gestaltung seiner äußeren Verhältnisse geht, die Aufgabe, sich an dem zu orientieren, was ihm zielgerichtet erscheint. Es bleibt zwar die grundsätzliche Ausrichtung auf die Liebe zu Gott als letztes Ziel allen menschlichen Handelns, aber die Mittel zur Erreichung dieses Zieles muss sich der Mensch sozusagen in eigener Verantwortung sichern. Nach Ockhams Auffassung kann Gott verschiedene Ordnungen schaffen, von denen jede vernünftig ist, es gibt nicht, wie es alte Auffassung war, eine einzige Vernunftordnung, neben der es keine Ordnung anderer Art geben kann.

Ockham hat damit auch der Möglichkeit der sozialen, politischen, ja sogar natürlichen Veränderung gedanklich ein Tor geöffnet.

Nur ein kleiner Hinweis. Unter Ockhams - zugegebenermaßen durchaus selbständigen - Schülern in Paris, etwa bei Johannes Buridan (1305 - 1358, der wirklich in mancher Hinsicht recht nahe an einen Ockham-Schüler herankommt) oder Nikolaus von Oresme (1322 - 1382), gewinnt der Gedanke an Boden, dass die Welt auch anders beschaffen sein könnte als man sich das gemeinhin als völlig selbstverständlich und allein mit der Vernunft verträglich vorgestellt hatte. Allgemein war man im Mittelalter und noch lange Zeit danach der Ansicht, dass die Erde natürlicherweise im Mittelpunkt der ganzen Welt stehe und dass rund um sie in zehn Kugelschalen die Himmel der einzelnen astronomischen Erscheinungen aufgebaut sind, der Reihe nach Mond, Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Fixsterne, dann der Kristallhimmel und schließlich der Feuerhimmel. Dies ist nur eine der Varianten, die gelegentlich gelehrt wurden. Alle diese Sphären sollten sich natürlicherweise um die Erde bewegen, wie man an den Planeten ebenso augenscheinlich feststellen konnte wie an Mond, Sonne und Fixsternen, wobei Mond und Sonne gewöhnlich zu den Planeten gerechnet wurden.

Die Bewegung bestand nun nach Ockhams Auffassung nicht in einer besonderen Eigenschaft der Dinge, sondern lediglich in der Veränderung der Lage der Dinge zueinander. Wenn man das gelten lässt, dann kann man nicht ohne zusätzliche Annahmen ausmachen, was sich bewegt, etwa das Boot auf dem Fluss oder der Fluss und die Ufer am Boot entlang. Es gibt natürlich Gründe, eher nach dem einen Muster sich zu orientieren als nach dem anderen. Betrachtet man aber die Verhältnisse im Großen, so wird man unschwer feststellen, dass die Erscheinungen am Himmel völlig die gleichen sind, wenn sich die verschiedenen Himmel um die Erde drehen wie wenn sich die Erde um ihre eigene Achse dreht.

Da man die komplizierten Bewegungen der fünf echten Planeten durch die vom ptolemäischen astronomischen System vorgesehenen Bewegungen sehr gut berechnen konnte, hatte man keine große Motivation, dieses System durch eine neue Theorie zu ersetzen, die jedenfalls auf den ersten Blick die Daten überhaupt nicht mehr richtig vorhersagen konnte. Noch für Kopernikus stellte sich dieses Problem als eine bedeutende Schwierigkeit dar, die erst durch die keplerschen Gesetze und darauf beruhende Berechnungen beseitigt werden konnte. Immerhin wurden aber alle Einwände und Gegenargumente gegen eine sich um ihre eigene Achse drehende Erde schon fast 300 Jahre vor Galilei heftig diskutiert. An dieser Diskussion nahm auch der Gründungsrektor der Universität Wien (1365, noch unter Rudolf IV., dem Sohn von Albert II.), Albert von Sachsen, teil.

Ockhams Überlegungen brachten viele Ideen in Gang, auch wenn er nicht alleiniger Urheber dieser Gedanken war. Insgesamt sind es eine ganze Reihe seiner typischen Vorstellungen, die alle aus dem Mittelalter und seiner Welt herausführen. Das ist deutlich zu machen an seiner Sprachtheorie, an seiner Erkenntnistheorie, an seiner Ethik, vor allem aber an seiner politischen Theorie, in der es ihm um die Bekämpfung eines Anspruchs auf "plenitudo potestatis", d.h. absolute Machtfülle, geht, natürlich einmal in der Form der Bekämpfung des päpstlichen Anspruchs, dann aber aus dem Zwang der Argumentation heraus in Form der Bekämpfung einer solchen plenitudo potestatis gegenüber Menschen überhaupt.

Ockham ist im Anschluss an einen seiner Vorgänger in der Theologie in Oxford, Johannes Duns Scotus, einer der ganz pointierten Verteidiger der Freiheit, sowohl der Freiheit Gottes als auch der Freiheit des Menschen. Ein freies Wesen kann selbst nur auf die Zuneigung und Achtung eines anderen freien Wesens Wert legen. Gott wollte in seiner Schöpfung den Menschen als freies Wesen. Nun ist aber Achtung und Zuneigung unter freien Wesen nur im Zustand friedlichen Zusammenlebens möglich, daher wollen freie Wesen friedliches Zusammenleben, und umgekehrt macht friedliches Zusammenleben die freie Tätigkeit aller erst möglich. Hier treffen Ockhams theologische Gedanken auf die politischen Gedanken des vielleicht ersten ganz großen politischen Denkers auf dem Weg in die Neuzeit, Marsilius von Padua und sein Werk "Defensor pacis", "Verteidiger des Friedens". Vor dem selben Papst, vor dem Ockham geflohen war, war im Jahr 1327 Marsilius von Padua zu Ludwig dem Bayern nach München gegangen. In München lernte Ockham diesen und seinen Traktat kennen, wie er selbst im Dialogus, seinem politischen Hauptwerk, berichtet.

Mit dem Defensor pacis kommt in eine Zeit der schweren Auseinandersetzungen und Kämpfe ein Bild von Politik, das mit der Idee der kriegerischen Auseinandersetzung und der Machtkämpfe einzelner nichts mehr gemeinsam hat. Gesetze sind nach Marsilius nur wirksam, wenn sie aus dem gemeinsamen Willen aller Bürger oder wenigstens des repräsentativen wichtigsten Teiles derselben kommen, nicht durch Diktat von Machthabern. Selbst schlechte Gesetze nach dem Willen aller Bürger sind besser als jedwedes Gesetz, das den Bürgern oder einem Teil von ihnen aufgezwungen wird. Jede Gesetzgebung aber muss "die Freiheit aller bestehen lassen und kann nur dann unwiderstehlich sein, wenn die Gesamtheit der Bürger letztlich nur sich selbst zwingt."[1]

Nach Ockhams Auffassung können sich die Bürger für die Durchsetzung der Gesetze und der von ihnen gewünschten Einrichtungen einen Befugten wählen, den sie als Herrscher annehmen. Dieser Herrscher ist aber, auch wenn er durch die Übertragung der Herrschaft ein Recht auf ihre Ausübung hat, nicht unantastbar. Wird er seiner Aufgabe nicht gerecht, dient die Herrschaft nicht dem Wohl und der Sicherheit der Bürger, zu deren Sicherung gesellschaftliche Einrichtungen nach dem Sündenfall durch Gott erlaubt sind, dann kann er abgesetzt werden. Ockham hat diese Überlegungen am Rande angestellt, in Vergleich mit der Aufgabe des Papstes in der Kirche, für die allerdings gilt, dass ihre Ämter gerade nicht, wie die staatlichen, Herrschaft (dominium) bedeuten sollen, sondern Dienst (ministerium). Die Zielrichtung des Dienstes ist auch nicht das äußere Wohl, sondern das innere Heil des Menschen. Ein Papst, der seine Aufgabe vernachlässigt und zum Ketzer wird, muss abgesetzt werden können, das verlangt das Heil des Menschen. Jeder Christ überhaupt hat die Pflicht, Widerstand zu leisten, wenn solches Unheil droht. So kann auch der Kaiser in die Belange des Papstes eingreifen, wenn anders nicht Schaden verhindert werden kann, und umgekehrt kann auch der Papst in die Belange eines Herrschers aus diesem Grund eingreifen, allerdings nicht in einer besonderen Rolle als Papst, sondern eher ganz allgemein als Bürger, der er ja auch ist.

1322 hatte Ludwig von Bayern Friedrich den Schönen in der Schlacht von Mühldorf geschlagen und gefangen genommen. Politik war Heldensache. Aber mit Albert II. zeigte sich auch eine andere Möglichkeit des Politischen: Klugheit. Und Albert hieß schließlich auch "der Weise". Trotz aller Bemühungen Ludwigs ging Tirol doch nicht an die Wittelsbacher, sondern landete bei Alberts Sohn Rudolf. 200 Jahre später schrieb ein ungarischer König:

Bella gerant alii, tu felix Austria nube.

Nam quae Mars aliis, dat tibi regna Venus.

(Mögen andere Kriege führen, du, glückliches Österreich, heirate. Denn die Reiche, die anderen der Kriegsgott gibt, schenkt dir die Göttin der Liebe.)

Trotzdem blieb Politik Heldensache, und beispielsweise Maximilian sah sich selbst in diesem Licht. Aber die Helden brauchten gelegentlich Ratgeber, und gerade jene Ratgeber, die Ludwig von Bayern um sich versammelt hatte, brachten auch den Wurm in die Politik der Helden. Ihre Argumente mochten Ludwig helfen, aber sie bewirkten auch etwas anderes. Sie entfachten Diskussionen, die das Heldentum und das Herrschaftsstreben, die ja miteinander verbunden sein müssen, allmählich zu diskreditieren begannen. Hatte Herrschaft nicht doch wirklich dem Frieden zu dienen, nicht der Erweiterung des Herrschaftsbereichs? Hatten Gesetze nicht doch ihre Wirksamkeit in der Anerkennung der Bürger, die sich gemeinsam auf sie verpflichten, und nicht in der gewaltsamen Durchsetzung? In der Theorie Ockhams haben die Helden mit dem Schwert keinen Platz, allenfalls die Helden des Widerstands gegen Übergriffe Herrschender und Mächtiger, seien es Päpste oder Fürsten. Die politischen Ideen, die von Thomas Hobbes über John Locke zu Rousseau und Kant, zu John Rawls und Michael Walzer, zu Ulrich Steinvorth, Wolfgang Kersting und Angelika Krebs und so weiter führen, haben ihren Ursprung in den Ideen eines Häufchens aristotelisch geschulter Theoretiker, von denen die meisten noch dazu Franziskanermönche waren. Verwickelt in feudale Konflikte zwischen zwei grundlegenden Hierarchien mussten sie ihre Überlegungen anstellen. Was dabei herauskam, hat die Konfliktstrukturen selbst, wenn auch in einem langen Prozess, zersetzt. Die Helden mussten abdanken, nachdem sie sich im wesentlichen nur noch lächerlich gemacht hatten. Der Abgang war lange und mit zunehmender Dauer immer scheußlicher, wie das ja auch im Nibelungenlied vorhergesehen ist. Dann aber kamen die Diplomaten. Sie haben jedenfalls das von den Helden, die sie beerbten, übernommen, dass sie nämlich auch oft lächerlich sind. Mag sein, dass sich vielleicht doch eines Tages als gemeinsamer Maßstab politischen Handelns die Richtung der argumentativen Überlegungen durchsetzt, denen zufolge nur ein friedliches Miteinander in gegenseitigem Wohlwollen theoretisch gerechtfertigt werden kann. Wenigstens sollte sich bei den Beteiligten ein schlechtes Gewissen einstellen, wenn sie versuchen, bloß ihre jeweils eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen